Ein Leipziger Schriftsteller

Antares Bleymehl

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Antares ist ein Stern erster Größe, ein roter Überriese, der hellste im Sternbild Skorpion, im sichtbaren Bereich 10.000 mal heller als die Sonne und fast 800 mal so groß; sein Durchmesser beträgt 1000 Millionen Kilometer, 600 Lichtjahre entfernen ihn von der Erde. Jakob Bleymehl wählte diesen Stern nicht zufällig als Titel seiner Folge von insgesamt 30 Drucken uto-phantastischer Seltenheiten, die er in der kurzen Zeit von 1964 bis 1967 in meist winzigen Auflagen herausbrachte, alles selbst gefertigt, jede Seite ein Abzug im Spiritus-Umdruckverfahren: „Sammlung Antares“, 30 mal Zahl der Seiten mal Anzahl der Exemplare – eine gewaltige Leistung. Darin auch die „Beiträge …“ sowie eigene literarische Schöpfungen: zwei Erzählungen in Band 22 („Adventus praematurus“ und „Visitatio sere“), in Band 25 der Roman „Der Stein der Weisen. Ein utopischer Bericht vom Planeten Atairon“.
1959, mit 51, hatte Jakob Bleymehl sich brieflich an Arno Schmidt (45) gewandt, mit Hinweisen und Vorschlägen und einer Liste bemerkenswerter Raritäten – und keine Antwort bekommen. Er war durchaus bescheiden aufgetreten, hatte zwar ein paar naive Bemerkungen gemacht, die Schmidt als einen Angriff auf sein hierarchisches Wissen verstanden haben mochte, und vielleicht hatte der sich unter dem Ansturm der Anregungen zu stark gefordert gefühlt. Psychologisch erfahren, hätte der deutsche Großschriftsteller dennoch ganz anders reagieren können, durchaus auch zu eigenem Vorteil, Jakob Bleymehl hatte bezüglich seiner Arbeitsvorschläge jegliche Hilfestellung angeboten – der Bäckermeister dem Gehirntier. Der ausführliche und nachdrückliche Verweis auf einen gewissen Robert Kraft erwischte Schmidt aus heiterem Himmel und sollte ihn und seinen Adlatus Wollschläger (24) über Jahre beschäftigen: „ist dieser Kraft auch einer der Pfeile, die noch im bamberger Köcher ruhen? Das kann ja heiter werden!“ Da saß die Spitze samt Widerhaken schon im Fleisch seines stolzen Ent­deckertriebes.
Arno Schmidt hatte nämlich den Autor Robert Kraft durchaus parat, er erinnerte, dass der Vater ihm als ca. Fünfjährigen aus dem „Detektiv Nobody“ vorgelesen hatte, behauptete gar, mit diesem Kraft-Futter lesen gelernt zu haben. Auch hatte Wollschläger 1958 von der legendären „Sfinx“-Figur auf Euchar Schmids Schreibtisch berichtet. Aber jetzt war da jemand, der von der Breite seiner Kenntnisse aus, sozusagen ex cathedra empfahl: „Sollten Sie nun Kraft überhaupt nicht oder nur von seiner minderen Seite her kennen, dann bitte ich Sie inständig, doch einmal in folgender Reihenfolge an ihn heranzukommen“ (folgen sechs Titel, über die man diskutieren könnte …). Eine Zumutung!? Im Grunde eine unheimliche Begegnung von „Fachidiot“ und „Dilettant“. Im Übrigen war man mit Karl May sowieso schon ausgelastet! Unentschieden warfen Schmidt und Wollschläger das heiße Thema kraftlos zwischen sich hin und her, bis es unter ihren Händen erkaltete. Als gar noch Schmidt seinen Jünger 1960 warnt, „Kerls“ wie May und Kraft „sind & bleiben, auch in ihren besten Stücken noch,
Handwerksburschen!“, verspricht der brav, Maß zu halten. So verkam jegliche Würdigung Krafts im gegebenen Rahmen der Funk-Essays, wurde nicht einmal der projektierte Artikel für die „konkret“ realisiert. Immerhin erstellte Wollschläger eine Bibliographie als ersten Schritt, angefangene Studien zu Kraft mögen noch im Nachlass ruhen. Sein honoriger aber kurzer Lexikonbeitrag 1983 war der verlegen-leise Schlusspfiff in einem Reiz-Spiel, das auch bestimmt war von negativen Gefühlen untereinander. „Zettels Traum“, 1970, gibt Schmidt Gelegenheit, sich Bleymehls und seines Engagements endgültig zu entledigen: „(& alles in BLEYMEHL’S ‚Antares‘: rührendes Unternehm; (da ebenso kurios wie unzulänglich…))“. Und doch immer wieder Nachfragen nach den Nobody-Bänden: „ich fühle ausgesprochen das Bedürfnis, den verrückten Kindheitseindruck aufzufrischen! Komisch.“ „Komisch“ - Was in einem kleinen Wort alles mitschwingen kann!
Das war zehn Jahre nach dem Brief, fünf nach den akribisch-originellen, mit gescheiten Einführungen versehenen „Beiträge(n)…“, quasi die allerspäteste indirekte Antwort Schmidts. Inzwischen hatte Jakob Bleymehl „Antares“ bereits wieder verglühen lassen müssen …
Vor allem für die Rezeption Krafts war eine einmalige historische Chance vertan, die Schweigezeit prolongierte sich. Wie hatte Bleymehl bezüglich des KMV konstatiert: „Hätten Schmids nicht May, dann wäre Kraft schließlich schon wieder gedruckt!“ Am Ende des Briefs hatte er viel Platz gelassen nach dem Vermerk “Raum für Kommentare:“ Der war leer geblieben …
Und doch war die Arbeit des Einzelkämpfers auf die Länge der Zeit von Erfolg gekrönt, Sammler wie Heinz Jürgen Galle nahmen Kontakt und so befruchtete und ermunterte er jüngere Garanten des Überlebens Robert Krafts nach engagierten Zeitgenossen wie Heinrich Lhotzky: vor allem Walter Henle in den 70ern, Bernd Steinbrink (via Wollschläger) und andere wichtige Neuentdecker der 80er, 90er, nuller Jahre … Ein Berufenerer wird bei passender Gelegenheit eine vollständige und historisch genaue Übersicht geben!
Gelegentlich erfuhr der literarische Partisan im Nebenberuf, dieser besessene literarische Archäologe eine Würdigung, aber eben was für eine: 1965 bekam er von der „Saarbrücker Zeitung“ im Rahmen von „Heim und Freizeit“ einen Preis für dieses sein „besonderes Hobby“, als hätte er nur ein kleines Steckenpferd geritten, wie ein Briefmarkensammler oder ein Kakteenfreund. Mit einer Neugier, so groß entwickelt wie sein Gerechtigkeitssinn, hatte er beherzt und ohne Skrupel eingegriffen in den stetigen Prozess des Beiseiteschiebens und Vergessens durch die eigentlich zuständigen Fachleute, unterwegs auf ihren ausgetretenen Pfaden. So wurde er zu einem Meister der Bewahrung und Wiederauferweckung, enttäuscht zwar im Bemühen, Mitstreiter zu finden wie die vermeintliche Koryphäe Arno Schmidt, dennoch rebellisch-aktiv. Neben allem anderen Engagement als Sammler und Bibliograph war sein Alleingang mit „Antares“ Selbstbehauptung und Revanche in 30 Akten.
Wir haben diesem Platzhalter Robert Krafts nachträglich für seine Bemühungen zu danken, auch wenn ihm das Verständnis für späte Romane wie z.B. „Atalanta“ und ihre spezifische Form von „Futuristik“ fehlte. Dieser Jakob und seine vielsprossige Leiter in die Sphären des Phantastischen und der Utopien hat Respekt verdient. Er ist selbst eine Art Antares, ein sich aufblähender Riese, der tendenziell alle Autoren seines weit gespannten Interesses samt allen ihren Werken in sich bergen wollte, darüber hinaus alles, was an Büchern verschollen, vergessen, ausgegrenzt war. Wie Kraft hatte er sich durch den köstlichen Papierbrei ganzer Buchbestände gefressen, ohne den Appetit auf gehaltreichen Lesestoff einzubüßen. Derart wohlgenährt erkletterte er trotz vielfältiger Behinderungen die Hochzonen der Liebhaberei. Auch wenn er, seiner Zeit und ihren Größen in gewisser Hinsicht voraus und trotz intensiver Anfrage bei der Koryphäe allein gelassen, in seinen Aktivitäten schließlich erlahmen musste, ist er keineswegs gescheitert. Man zehrt noch von seiner Strahlkraft.

© Arnulf Meifert (2019)

Der Beitrag erschien im 3. Robert-Kraft-Symposiums-Band 2019 auf den Seiten 52-55.