Meister der phantastischen Literatur

Robert Kraft

porträtiert von Achim Schnurrer


    Robert Kraft war in erster Linie ein Autor packender Abenteuerromane. Ein bedeutender Teil seines Werks gehört aber auch zur phantastischen Literatur. Trotz großer Beliebtheit und weiter Verbreitung zu Lebzeiten, zählt er heute zu jenen nahezu vergessenen Autoren, ohne deren Einfluss ein beachtlicher Teil der populären Literatur des deutschsprachigen Raumes anders, um nicht zu sagen ärmer wäre. Auch und gerade die im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland entstandene Science Fiction und Phantastik verdankt Robert Kraft mehr, als vielen bewusst ist.

    Ein Großteil seines umfangreichen Werkes, das in wenigen Jahrzehnten unter den Bedingungen der seinerzeit tätigen Kolportageverlage entstand, zählt zum kaum definierbaren Genre des Abenteuerromans. Allerdings verstand es Robert Kraft, dank seiner unerschöpflichen Phantasie, die Grenzen der herkömmlichen Abenteuerliteratur immer wieder zu sprengen und in erzählerische Bereiche vorzustoßen, die ihn zu einem bedeutenden Vorläufer deutscher SF werden ließ.
    Zeitgenossen verglichen Robert Kraft gerne mit Karl May oder bezeichneten ihn nicht selten als einen deutschen Jules Verne. Eine nähere Beschäftigung mit dem aus vielerlei Gründen heute kaum noch bekannten Autor zeigt, dass beide Vergleiche hinken – und zwar gewaltig.

    Kraft und May I


    Zwar erschienen eine Reihe der Werke von Karl May und Robert Kraft beim gleichen Verlag, der H. G. Münchmeyer GmbH. Zudem kannten sich beide Autoren und trafen sich gelegentlich auch außerhalb des Verlagsbetriebs. Doch während May seine Reiseabenteuer schrieb, ohne im Orient oder in Amerika gewesen zu sein, begann Robert Kraft seine schriftstellerische Karriere erst, nachdem er als Schiffsjunge und Matrose weite Teile der Welt bereist hatte. Hinzu kommt, dass May und Kraft inhaltlich mehr trennt, als sie verbindet. Die Charakterisierung ihrer Helden durch die Autoren macht einen wesentlichen Unterschied deutlich.
    Edelmütig, körperlich, geistig und moralisch überlegen und dadurch für sich genommen nicht selten blass und ohne Profil, das sind die heute nur noch zur Parodie tauglichen Helden bei Karl May, die wegen ihrer Überhöhung umso profiliertere Sidekicks und vor allem umso bösere Gegner brauchten, an deren Ecken und Kanten sie ihre eigene Größe beweisen konnten.
    Robert Kraft hatte dagegen bei vielen seiner Helden eine Schwäche für deren Marotten, Eigensinnigkeiten und Verschrobenheiten. Auch sie sind zwar häufig ihren Gegnern bis hin zum abgelutschtesten Klischee überlegen, aber sie tappen auch gern in die Fallen ihrer eigenen Eitelkeiten und gelegentlich ist ihr Handeln – wie etwa im »Graf von Saint Germain« – düster und mit Anflügen von Bosheit.
    In einem anderen, für die Verhältnisse Krafts eher kurzen Roman »Wenn ich König wäre!« (»König König« bei USTAD, Karl-May-Verlag) gestaltete er den zu unerwarteten Reichtum gekommenen Helden des schwimmenden »König«reichs UTOPIA zu einem eigenartigen Kauz, der seine Lebensphilosophie mit einer Halsstarrigkeit zu verwirklichen sucht, dass sich auch heute noch so mancher Fanatiker, gleich welcher Couleur, in dieser Figur wiedererkennen könnte.
    Trotzdem begegneten die Schilderungen Krafts den Figuren nie ohne Sympathie, so dass es ihm geradezu spielerisch gelang, seine Leser mit Charakteren zu konfrontieren, denen man in Wirklichkeit wahrscheinlich nur mit Befremden gegenüber treten würde.
    Der entscheidende Unterschied zwischen den Werken Karl Mays und Robert Krafts beruht jedoch letztlich auf einer subjektiven Einschätzung. Stilistisch ist Kraft seinem berühmteren Kollegen – zumindest meiner Meinung nach – haushoch überlegen.

    Voyages extraordinaires


    Der Vergleich mit Jules Verne ist schwieriger zu ziehen. Denn beide Autoren extrapolieren aus ihrer Zeit heraus technische Entwicklungen, die zum Teil erst Generationen später Wirklichkeit werden. Während aber ein Großteil des Werks von Jules Verne für genau diese, auch in der Nachschau verblüffende Eigenschaft heute noch zu Recht gerühmt wird, nimmt sie in den Romanen Krafts nur eine marginale Rolle ein.
    Obwohl auch bei Robert Kraft eine Reihe zu seiner Zeit utopische Techniken in die Romanhandlung integriert werden, gerät dieses mitunter phantastische Beiwerk nur selten, wie bei Jules Verne, zum alles bestimmenden Element. Wichtiger sind Kraft das eigentliche Abenteuer, die Konflikte der agierenden Personen, sowie ein mal mehr, mal weniger geschickt mit der Handlung verwobener bildungsbürgerlicher, didaktischer Aspekt. Letzteres klingt vielleicht merkwürdig, deshalb später mehr zu Krafts Didaktik.
    Vor allem aber scheut sich Kraft nicht, Wissenschaft und Technik besonders in seinen späteren Romanen wie
    »Loke Klingsor« ganz der Phantasie unterzuordnen. Es geht ihm nicht mehr um eine tatsächlich mögliche und denkbare technische Entwicklung, sondern nur noch um eine Art dramaturgischer Wunscherfüllung. Damit hat Kraft einen Wesenszug zahlloser moderner SF-Romane vorweggenommen.
    Da von Jules Verne in der Hauptsache – zumindest bei seinem deutschsprachigen Leserpublikum – SF-Klassiker wie »20.000 Meilen unter den Meeren« (
    Vingt mille lieues sous les mers, 1869) und »Von der Erde zum Mond« (De la Terre à la Lune, 1865) bzw. Fantasy-Romane wie »Reise zum Mittelpunkt der Erde« (Voyage au centre de la Terre, 1864) im Bewusstsein geblieben sind, verbinden sich mit seinem Namen unauslöschlich prognostische Elemente, wie das U-Boot von Kapitän Nemo oder die abenteuerliche Eroberung des erdnahen Weltraums.
    Darüber wird gerne vergessen, dass Jules Verne, wie sein deutscher Kollege Robert Kraft, zu seiner Zeit in erster Linie als Volksschriftsteller galt, der erfolgreiche Abenteuerromane verfasste. Die »Reise um die Erde in 80 Tagen« (
    Le Tour du monde en quatre-vingts jours, 1873) setzt zwar auf den technologischen Fortschritt seiner Zeit, aber ohne den Einsatz allzu phantastischer Mittel oder gar von Elementen, die man zur Science-Fiction zählen könnte. Tatsächlich schrieb Jules Verne in erster Linie spannende Abenteuerromane. Auch er war ein Vielschreiber und abgesehen von den SF-Klassikern oder Titeln wie »Der Kurier des Zaren« (Michel Strogoff, 1876) sind etliche seiner Romane heute ebenso vergessen, wie nahezu alles von Robert Kraft.
    Mag Kraft auch heute so etwas wie ein Geheimtipp sein, so zählte er doch bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum und teilweise auch darüber hinaus zu den erfolgreichsten Autoren populärer Unterhaltungsliteratur.
    Deshalb interessiert neben inhaltlichen Aspekten in Robert Krafts Romanen und seiner Biografie auch die Frage, wie es dazu kam, dass sein Werk – fast – in Vergessenheit geriet.

    Von Stahlrössern, Panzerautomobil und Plasmabildschirmen


    Wenngleich technische Neuerungen in Krafts Romanen nicht den gleichen Stellenwert wie im Werk Jules Vernes einnehmen, so sind doch manche seiner »Erfindungen« auch aus heutiger Sicht, vielleicht sogar gerade erst aus heutiger Sicht, erstaunlich. In der Novelle »Wenn ich König wäre!« und auch in den Abenteuern von Krafts wahrscheinlich berühmtester Figur
    Detektiv Nobody kommt eine Form von Bildschirm vor, die wie eine Beschreibung moderner Plasmabildschirmtechnologie anmutet, geschrieben zu einer Zeit, als gerade einmal die ersten Kinematographen auf den Jahrmärkten dem staunenden Publikum bewegte Bilder in Form erster kurzer Stummfilmchen vorführten.
    Gelegentlich verwendet Kraft aber auch Elemente einer Art Retro-Science-Fiction, etwa wenn er den Grafen von Saint Germain Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Weise Elektrizität nutzen lässt, die selbst noch zu Krafts eigener Zeit als fortschrittlich gegolten hat.
    Eher ins Reich technischer Kuriositäten gehört Robert Krafts
    Stahlross; ein Begriff, mit dem man mächtige, mit Dampfkraft betriebene Lokomotiven verbindet, der aber in der gleichnamigen Erzählung, Heft 7 der Reihe »Aus dem Reiche der Phantasie«, durchaus wörtlich zu verstehen ist. Hier reitet der junge Held ein künstliches Pferd aus Stahl. Kraft beschreibt damit nichts anderes als eine Art vierbeinigen Roboter.
    Bei dem Protagonisten dieser, unter SF-Sammlern sehr gesuchten Reihe, handelt es sich um einen querschnittsgelähmten Jungen, der sich jede Nacht durch eine phantastische Wunschtür in eine andere Region einer imaginären Abenteuerwelt zu versetzen vermag. Eine Welt, in der er nicht von seiner Behinderung eingeschränkt wird.
    Inwieweit Kraft sich vom Werk Jules Vernes beeinflussen ließ, kann man heute nur noch mutmaßen. Aber ein Titel wie »La Maison à vapeur« von 1880 (
    Der Stahlelefant) kann zumindest seine Verwandtschaft mit dem Stahlross nicht leugnen. Seit 1874 wurden die Romane Vernes auch ins Deutsche übersetzt und herausgegeben. Interessanterweise anfänglich genauso, wie das Werk Robert Krafts, nämlich als Kolportageromane. Doch während sich die deutschen Ausgaben der Werke Vernes rasch aus den Niederungen der Fortsetzungslieferungen lösten und auch deutsche Verleger die prachtvolle Gestaltung der französischen Originale übernahmen, sollte Robert Kraft eine derartige Aufwertung seiner Romane nicht mehr erleben.

    Der Kolportageroman


    Der Begriff der Kolportage leitet sich aus dem Französischen ab und illustriert auf anschauliche Weise, wie die Fortsetzungsserien der Kolportageliteratur im 19. Jahrhundert vornehmlich unter der Landbevölkerung vertrieben wurde: col = Kragen, Hals; porteur = Träger. Es handelte sich um Literatur, die in einer Kiepe, um den Hals, auf dem Rücken von Ort zu Ort und Haus zu Haus getragen wurde oder auf den zahllosen Märkten mit dem Bauchladen offeriert wurde.
    »Um den Hals« trugen die von Haus zu Haus wandernden Händler die Gurte ihrer Körbe, in denen sie einer überwiegend einfachen, ländlichen Kundschaft Waren aller Art an die Tür lieferten, auch Lesestoff. Zwischen sechzehn, zweiunddreißig oder entsprechend mehr Seiten umfassten die meist kleinformatigen Hefte und enthielten, in Fortsetzungen gestückelt, Liebes-, Schauer-, Ritter- oder Abenteuerromane. Häufig besaßen die einzelnen Folgen eines Romans ein immer gleich bleibendes Titelbild und unterschieden sich äußerlich nur in der Nummerierung. Der Inhalt setzte stets dort – oft mitten im Satz – ein, wo die vorherige Lieferung geendet hatte.
    Damit sind die Lieferungshefte der Kolportageliteratur die direkten Vorläufer der Heftromane. Die Bezeichnung der Lieferungshefte als Kolportageromane blieb auch dann noch geläufig, als die Verleger dieser Literatur neben den von Dorf zu Dorf und Markt zu Markt wandernden Händlern längst andere Vertriebsformen, etwa analog zum Pressevertrieb über Poststellen oder auch den Buchhandel, gefunden hatten.

    Literatur auf der Couch


    Titel wie »Im Panzerautomobil um die Erde« oder »Im Zeppelin um die Welt« verdeutlichen, dass in Krafts Kolportageromanen sehr häufig das Motiv der Reise eine alles entscheidende Rolle spielte. Das Reise-Abenteuer zählt seit Homers »Odyssee« zu den wichtigsten Sujets der erzählenden Literatur.
    Die Quest, die Reise und Suche eines oder mehrerer Helden, Aufbruch, (Irr)fahrt mitsamt aller notwendigen dramatischen Elemente, wie Kämpfe gegen übermächtige Gegner, Verlust, (beinahe) Scheitern und letztendlich glückliche Heimkehr als gereifte Persönlichkeit, erlebte im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert einen Höhepunkt an Output und Popularität, der sich nur aus den Umständen der Zeit vor dem ersten Weltkrieg erklären lässt.
    Deutschland reihte sich damals – wenn auch mit Verspätung – unter die Kolonialmächte und versuchte, mit zweifelhaftem Erfolg, beim Konzert der imperialistischen (Groß)Mächte England, Frankreich, Holland und Belgien mitzuspielen. Die Verspätung war historisch bedingt. Als eine in zahlreiche Kleinstaaten und Fürstentümer aufgesplitterte Nation bestand Deutschland bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur dem Namen nach. Als umso empfindlicher und verwundbarer galt vielen Menschen jener Zeit die nationale Identität. Hätte man den Prototypen des Deutschen dieser Jahre auf die Couch des jungen Sigmund Freud gelegt, der Begründer der Psychoanalyse hätte nicht nur ein irreparabel angekratztes Selbstbewusstsein und eine in schlimmer Verwirrung verfangene Seele diagnostiziert. Eine Traumdeutung an Hand der damals aktuellen Literatur hätte höchstwahrscheinlich auch einen faustdicken Ödipuskomplex zutage gefördert.
    Das zwangsläufige Scheitern der deutschen Kolonialpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs wurde auf verschiedene Weise kompensiert. Ganz direkt einerseits durch unsagbare Grausamkeiten gegenüber den unterdrückten und ausgebeuteten Völkern – Stichwort: Herero-Aufstand – und andererseits indirekt durch noble Helden, die als Stellvertreter des deutschen Bürgers die Welt bereisten und, zumindest in der Phantasie, vereinnahmten.
    Ein häufiges Motiv bei Robert Kraft, der den Helden nicht selten inkognito auftreten lässt (z. B.
    Detektiv Nobody oder Depeschenreiter Axel), besteht nicht zuletzt in einer sorgfältig gehüteten geheimen Identität, hinter der sich ein deutscher Fürstensohn verbirgt, der aus dem Korsett seiner standesgemäßen Verpflichtungen ausgebrochen ist.
    Bei Autoren aus anderen Ländern steht im Selbstverständnis der Zeit ebenfalls das Reisemotiv im Vordergrund. So auch bei Jules Verne, der seine Romane in Frankreich exklusiv beim Verleger Pierre-Jules Hetzel herausbrachte. Die von Hetzel dem Werk des Autors angepasste Reihe hieß folgerichtig »Voyages extraordinaires«.

    1869 bis 1916


    Doch bevor ich mich weiteren, ebenso spannenden, inhaltlichen Aspekten der Romane Krafts zuwende, muss die Frage gestellt werden: Wer war Robert Kraft? Wer war dieser in vielerlei Hinsicht erstaunliche Autor?
    Robert Krafts kurzes Leben war nicht weniger abenteuerlich, als die Handlung der meisten seiner Romane, zumindest was die erste Lebenshälfte betrifft. Diesen Umstand nutzten die meisten Verleger Krafts auf ebenso marktschreierische wie überzogene Weise. Die ohnehin spannende Biografie dieses Autors wurde der Reklame wegen noch um zahllose Legenden bereichert. Die verdienstvolle und gut recherchierte Arbeit von Walter Henle und Peter Richter versucht unter dem Titel »Unter den Augen der Sphinx – Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit« (siehe Kasten), die Realität von den Legenden zu trennen.
    Emil Robert Kraft wurde am 3. Oktober 1869 in Leipzig geboren. Der Vater, Hermann Emil Kraft, ein Weinhändler, der zudem das berühmte Lokal »Der goldne Elephant« betrieb, wurde für Robert Kraft zur andauernden, lebenslangen Ursache zahlloser Auseinandersetzungen und Konflikte. Da die Mutter schon früh die Familie verließ, wuchs der schmächtige Junge in zwar materiell gesicherten, aber emotional verarmten Verhältnissen auf, die man heute als zerrüttet bezeichnen würde. Die gefühlsmäßige Verwirrung und Unsicherheit seiner Jugend schlug sich in einem auffälligen Verhalten nieder, das seinerseits nur dazu angetan war, die kritische Situation zu verschärfen. Der Junge begann zu stottern.
    Es liegt nahe, in dieser sprachlichen Behinderung eine der Ursachen für die ungeheure Produktivität seiner späteren schriftstellerischen Karriere zu sehen. Und tatsächlich spricht auch ein stilistisches Moment seiner Romane für diese Annahme.

    Einschub für Einschübe


    Immer wieder unterbricht Robert Kraft in seinen Romanen den Fluss der eigentlichen Erzählung, um seine Leser direkt anzusprechen und in mitunter weitschweifigen Erläuterungen zum Thema passende Hintergrundinformationen mitzuteilen, quasi enzyklopädische Details aus vielerlei Wissensgebieten einzustreuen. Fast immer interessant formuliert, stören solche Ansprachen nur selten. Kraft vermittelt mit ihnen mit leichter Hand Bruchstücke bürgerlicher Bildung. Hierin liegt ein wesentliches Moment jener bereits angesprochenen, typisch deutschen Didaktik seiner Romane. Kraft versteht es aber auch, diese Passagen so in den Erzählfluss zu integrieren, dass die Romane unter ihnen nicht leiden. Meist gelingt es ihm sogar, mit seinen Einschüben ein größere Nähe zum Stoff herzustellen und dramaturgisch die Spannung zu steigern. Und überall dort, wo sich heute die Kenntnisse seiner Zeit als überholt erweisen, stellt sich so zumindest noch das Gefühl der Authentizität her.
    Noch eine Anmerkung drängt sich in diesem Zusammenhang auf. Allein die Produktionsbedingungen für einen Kolportageautor, der Zwang in rascher Folge zu festgesetzten Terminen Romanmaterial an den Verlag zu liefern, dürften eine intensivere Beschäftigung mit den Texten verhindert haben. Wie jeder Schriftsteller von Lieferungsromanen war auch Robert Kraft gezwungen, ein hohes Output sicherzustellen. Am leichtesten fiel ihm dies, wenn er einfach drauflos schrieb, ohne vorher aufwändige Exposés zu erarbeiten, einfach nur mit der groben Idee im Kopf. Es ist nicht abwertend oder gar negativ gemeint, wenn ich hier konstatiere, dass man genau das seinen Romanen gelegentlich anmerkt. Er schrieb, wie ihm der Schnabel gewachsen war und der Leser spürt deutlich, es machte Kraft Spaß zu erzählen. Vielleicht lag in dieser Leichtigkeit ein Teil seines Erfolgs begründet. Denn noch heute kann man sich bei der Lektüre Kraftscher Romane problemlos vorstellen, die Geschichte, während man sie liest, auch zu hören. Mit Hilfe seiner Texte hat Kraft eine Möglichkeit gefunden, im übertragenen Sinn, ungehindert sprechen zu können.
    Es konnte aber auch passieren, dass – vielleicht wegen Zeitmangels, vielleicht auch weil Kraft die Lust an einem bestimmten Erzählstrang verloren hat – die Handlung Hals über Kopf abgebrochen wurde und mit wenigen Sätzen eine notdürftige Erklärung den Schluss einleitet oder über einen langen Zeitraum hinwegführt, um an neuem Ort, zum Teil mit neuem Personal, sich wieder in die Geschichte zu stürzen.

    Auf der Flucht


    Stottern, Rückzug in sich selbst, bereits als Schüler wurde Kraft zum Eigenbrödler und Außenseiter und es wundert unter solchen Prämissen wenig, dass er sich später in seinen Romanen so gut in Charaktere einzufühlen vermochte, die man getrost als wunderlich bezeichnen kann.
    Mehrfach riss der junge Robert Kraft zum Teil wochenlang von zu Hause aus, wurde aber immer wieder von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht. 1885 führte sein mehrmonatiges Fehlen dazu, dass man ihn vom Gymnasium warf. Längst wusste der Junge, was er werden wollte, aber der Wille des Vaters zwang ihn in eine andere Richtung. Nach eigenen Angaben hatte er jedes Mal, wenn er bei Nacht und Nebel durchbrannte, nur das Ziel, sich bis nach Hamburg durchzuschlagen, dort anzuheuern und Seemann zu werden. Doch nach dem Rausschmiss aus der Schule musste er eine Schlosserlehre absolvieren, deren Abschluss ihm 1887 immerhin ermöglichte, an der Königlichen Höheren Gewerbeschule in Chemnitz zu studieren.
    Man kann nur vermuten, was für ein Gefühl der Befreiung der Weggang aus Leipzig war, was das Fortfallen des unmittelbaren väterlichen Zugriffs für Robert Kraft bedeutet haben mag. Allzu lang kann dieses Gefühl jedoch nicht vorgehalten haben. Denn im August 1889 in den Ferien des zweiten ‚Curses’ besuchte er seinen Vater, stahl ihm einen Betrag von 1.780,- Mark und tauchte zunächst spurlos unter. Er wurde schließlich – steckbrieflich gesucht – verhaftet und saß wahrscheinlich auch für kurze Zeit im Gefängnis. Das lässt sich nur vermuten; ebenso, ob der Diebstahl zu einem Gerichtsverfahren führte, da weitere Akten und Unterlagen zu diesem Fall nicht mehr vorhanden sind.
    Das Verhältnis zum Vater war nach diesem Vorfall verständlicherweise für lange Zeit nachhaltig gestört, an einen Abschluss des Studiums nicht mehr zu denken.
    Mit einem »prod. Loos-Schein« begab sich Robert Kraft nun endgültig nach Hamburg. Das Papier der Leipziger Behörden befreite ihn für ein Jahr vom anstehenden Militärdienst und Kraft nutzte diese Zeit, um endlich auf einem Schiff anzuheuern.

    Shakespeares Untergang


    1889, gerade zwanzigjährig, kam Emil Robert Kraft auf sein erstes Schiff, die SHAKESPEARE, um mit ihr den Atlantik Richtung »New Amerika« zu überqueren. Bei dem Bremer Vollschiff handelte es sich um einen Dreimaster, der Salz und Stückgüter nach den USA transportieren sollte. Die Besatzung bestand aus 18 Mann und stand unter dem Kommando von Kapitän Johann Carl Müller aus Bremen.
    Schon Krafts erste Fahrt sollte seinem Hunger nach Abenteuer in einer Weise entgegen kommen, die er nie wieder vergessen würde. Kapitän Müller war ein Säufer, den eines Nachts mitten auf dem Atlantik, nachdem er zwei Flaschen Rum innerhalb kürzester Zeit geleert hatte, der Schlag traf, an dem er augenblicklich starb. Es stürmte seit Tagen, zum Teil in Orkanstärke und mit dem Tod des Kapitäns schien das Unwetter auf einmal abzuflauen. Doch die Erleichterung über die vermeintliche Wetterbesserung sollte sich schon wenig später als sehr trügerisch erweisen. Eine gewaltige Woge erfasste das Schiff, hob es in die Höhe und als es wieder in die Tiefe schoss, ergossen sich von Backbord die Wassermassen mit derartiger Wucht über das Deck, dass die Ankerketten zersprangen, als wären sie aus Glas.
    Schon vorher hatte der Dienst der Mannschaft hauptsächlich darin bestanden, sich an den Pumpen abzuwechseln, da immer wieder mehr Wasser ins Schiff eindrang, als gut war. Der Orkan tobte weiter und die heftigen Brecher, die über Bord fegten, verwandelten das Deck des Schiffes innerhalb kürzester Zeit in Kleinholz. Kraft wurde von einem herabfallenden Mast am Kopf gestreift und verlor für einige Augenblicke das Bewusstsein.
    Kaum hatte der Sturm die SHAKESPEARE manövrierunfähig gemacht, ließ das Wüten von Wind und Wellen wieder etwas nach. Dafür kam nun die Kälte. Das in mehrfacher Hinsicht führerlos dahintreibende Schiff befand sich irgendwo zwischen Island und Grönland.
    Nach ein paar Tagen kam der Dampfer NESTORIAN in Sichtweite, aber hoher Wellengang hinderte ihn an einer Rettungsaktion und als dichter Nebel aufzog, verlor man sich wieder aus den Augen. Inzwischen wurde die Lage an Bord des Wracks immer unhaltbarer. Langsam aber stetig lief das Schiff voll und es würde nicht mehr lange dauern, bis es sank.
    Am 21. Dezember 1889 sichtete der britische Dampfer STAG das Wrack der SHAKESPEARE und näherte sich dem untergehenden Schiff. Noch immer war die See so rau, dass zwei Jollen, die von der STAG aus wassern wollten, von den Wellen zerschlagen wurden. Ein Matrose des Dampfers starb bei diesen Manövern. Der Kapitän der STAG, David Munro, wagte einen dritten und letzten Rettungsversuch. Endlich gelang es ihm, ein Boot zu Wasser zu lassen und mit Hilfe von Tauen, die man auf das Wrack warf, konnte die Mannschaft der SHAKESPEARE geborgen werden. Kurz darauf versank das leckgeschlagene Schiff in den eisigen Fluten des Atlantiks.

    Europa im Suezkanal


    Die STAG fuhr mit den Schiffbrüchigen nach New York. Die Retter unter Kapitän Munro erhielten dort Dank und Ehrungen in Anerkennung ihres Einsatzes im Nordatlantik. Kraft kehrte mit den meisten ehemaligen Besatzungsmitgliedern der SHAKESPEARE Anfang 1890 wieder nach Deutschland zurück, wo die Schiffskatastrophe vor den Untersuchungsbehörden des Bremer Seeamtes noch ein Nachspiel hatte.
    Doch schon wenig später heuerte Robert Kraft wieder an, diesmal als Kochsmaat auf dem Dampfer EUROPA. Die Fahrt ging durchs Mittelmeer nach Ägypten. Dort bei El Kantara im Suezkanal desertierte Kraft von dem Schiff, da er sich – wie er später schrieb – »das Land der Pharaonen etwas näher anschauen wollte«.
    Völlig mittellos schlug er sich durch das Land, durchschwamm angeblich, da er den Fährmann nicht bezahlen konnte, den Nil und ernährte sich von gestohlenen Hühnern, denen er den Hals umdrehte, um sie über dem offenen Feuer zu braten. Diese Angaben beziehen sich auf Mitteilungen und autobiografische Notizen, die Kraft später verfasste. Ihre Authentizität lässt sich häufig nicht mehr überprüfen. Sicher ist nur, dass er sich 1890 in Ägypten aufgehalten hat und dort von der EUROPA desertierte. Nach eigenen Angaben arbeitete er eine Zeitlang gutbezahlt als Heizer einer Dampfmaschine auf einer Baustelle bei Shubra El-Keima in der Nähe Kairos, wo unter englischer Leitung eine Brücke über den Nil errichtet wurde. Wenig später soll er hier sogar zum Maschinisten aufgestiegen sein.
    In jener Zeit lebte er mit einer Schwarzen namens Topsy in einer Bretterbude in der Wüste. Doch die junge Frau sollte kurz darauf, als Kraft erkrankte und in einer Klinik untergebracht werden musste, unter tragischen Umständen ums Leben kommen. Der verächtliche Rassismus, mit dem »Negern« in Ägypten von den Kolonialherren, wie den Einheimischen begegnet wurde, die – und sei es nur geringfügig – hellhäutiger waren, muss Kraft – zumal er es aus nächster Nähe miterlebte – empört haben. In der 1899 erschienen Erzählung »Nur eine Negerin« schilderte er diese Episode seines Ägyptenaufenthalts.


    Das Totenschiff


    Als blinder Passagier schlich sich Kraft anschließend ausgerechnet auf ein Pilgerschiff namens MALACCA, auf dem über tausend Mekkapilger zusammengepfercht waren. Ziel der Reise war Konstantinopel, wo er sich zum deutschen Konsulat begeben wollte, um die Formalitäten seines anstehenden Militärdienstes abzuklären.
    Doch es sollte Monate dauern, bis es dazu kam. Die Ereignisse, die zu der Kette von Verzögerungen führte, sind ausreichend dokumentiert und belegen wieder einmal, dass die Realität unglaublichere Geschichten bereithält, als sie sich ein noch so begabter Phantast ausdenken kann.
    Als erstes flog natürlich das Versteck des blinden Passagiers auf dem Schiff auf, kaum dass es abgelegt hatte und Kraft verdingte sich nachträglich als Matrose. Ein geldgieriger Schiffsagent, der den Rang eines Kapitäns innehatte und mit der Verwaltung des Pilgerschiffes beauftragt war, veranlasste, dass die Trinkwassertanks der MALACCA mit Aas verseucht wurden.
    Cholera und andere schwere Erkrankungen brachen aus und rafften die zusammengepferchten Passagiere dahin wie die Fliegen. Auch viele Mitglieder der Besatzung erkrankten und starben. Immer wieder wurde das Totenschiff in Quarantäne genommen und letztendlich überlebten nur wenige. Der Schiffsagent und seine Komplizen wollten den Kurs ändern, um Smyrna, das heutige Izmir anzulaufen.
    Doch der nautische Kapitän des Schiffes, der angesichts der Hunderten von Toten zu ahnen begann, dass diese Epidemie das Resultat eines teuflischen Plans war, verhinderte den Kurswechsel und steuerte die MALACCA schließlich nach wochenlangen Irrfahrten an ihren Bestimmungsort. Auch Robert Kraft befiel das Fieber und er kam ins Deutsche Krankenhaus von Konstantinopel.
    Er überlebte dank der Pflege der dort arbeitenden Ärzte und Schwestern und erfuhr schließlich die Hintergründe des bösen Komplotts. Der Schiffsagent und seine Komplizen hatten bewusst die Epidemie unter den Pilgerreisenden ausbrechen lassen, um so an die Wertsachen der Toten heran zu kommen. In Smyrna hatten sie dann vor, sich mit dem zusammengeraubten Besitz abzusetzen. Nun wartete der Galgen auf die Verbrecher.

    In der Stationsbibliothek


    Kaum genesen, musste Kraft nach Deutschland zurück, um seinen Wehrdienst abzuleisten. Er kam zur II. Matrosendivision der Kaiserlichen Marine nach Wilhelmshaven. Drei Jahre dauerte der Dienst. Es gelang ihm schließlich in die Stationsbücherei der Stadtkaserne abkommandiert zu werden. Hier entdeckte er zum ersten mal in größerem Umfang die Welt der Literatur und hier in Wilhelmshaven eignete er sich den Grundstock jenes umfangreichen Wissens an, das er in seiner späteren literarischen Arbeit so oft nutzen sollte.
    Nahezu jeder, der sich mit dem Werk Robert Krafts beschäftigt, kommt zu dem Schluss, dass der Autor sicher der belesenste und am besten informierte Kolportageschriftsteller seiner Zeit war.
    Im zweiten Band des »Graf von Saint Germain« verrät Kraft in einem autobiografischen Einschub, der seine Zeit in London reflektiert, eine Methode, sich einen umfassenden Wissensschatz anzueignen. Er empfiehlt den Kauf einer mehrbändigen Enzyklopädie und jeden Begriff darin nachzuschlagen, den man liest oder hört, aber nicht kennt. Egal, ob es sich um ein technisches Verfahren, einen chemischen Prozess, historische Ereignisse, Zusammenhänge der Biologie oder sonstige Fragen handelt. Er empfiehlt dann ausdrücklich alle Querverweise und neu auftauchenden Begriffe in diesen Artikeln ebenfalls nachzuschlagen und verspricht, dass man sich auf diesem ‚wilden’ Weg irgendwann die komplette Enzyklopädie wissensmäßig aneignen kann.
    Diese bewusste Entscheidung für ein scheinbar nichtsystematisches Arbeiten und Denken ist erstaunlich modern. Heute wird die Enzyklopädie durchs Internet ersetzt. Durch die unzähligen Verästelungen und Links wird ‚wildes’ Denken mittlerweile als selbstverständlich angesehen. Gerade Recherchen im Netz belegen, dass die sinnvolle, nichtlineare Aneignung von Informationen der klassischen, hierarchischen Wissensvermittlung weit überlegen ist. Nicht zuletzt entspricht jene Nichtlinearität der Aneignung von Informationen auch der natürlichen, neuronalen Struktur des Gehirns.

    Vom Meisterschwimmer zur Heilsarmee


    Ein Vorfall aus der Militärzeit verdient eine besondere Erwähnung, da er ein Schlaglicht auf Robert Krafts Charakter wirft. Das Wilhelmshavener Tageblatt berichtete am 29. August 1893:
    Eine kolossale Leistung hat gestern der Matrose Kraft der II. Komp. der II. Matr.-Div. fertig gebracht. Derselbe durchschwamm um 10 Uhr 50 Min. morgens von den neuen Moolen beginnend, die Jade in 4 Stunden 10 Min. Kraft legte die Strecke von hier nach Eckwarderhörne ohne Begleitboot zurück und hat damit eine von ihm am Tag zuvor eingegangene Wette glänzend gewonnen. Die Entfernung zwischen den beiden Endpunkten der abgeschwommenen Strecke beträgt 4 ½ Kilometer.
    Diese Aktion erregte einiges Aufsehen. Zum einen hatte vorher noch niemand gewagt, den Jadebusen wegen der Strömungen ohne Begleitboot zu durchschwimmen. Zum anderen kassierte Kraft deswegen von seinen Vorgesetzten erst einmal der Ordnung halber drei Tage Arrest, schließlich hatte er leichtfertig sein Leben aufs Spiel gesetzt. Andererseits machte die Nachricht dieser tollkühnen Leistung die Runde und führte schließlich sogar dazu, dass Kraft Kaiser Wilhelm II. vorgestellt wurde.
    Ende 1893 endete die Militärzeit und Kraft fuhr schließlich nach einem kurzen Intermezzo in Leipzig im Frühjahr 1894 nach London. Wie üblich ging ihm rasch das Geld aus und er landete auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf, Arbeit und Brot im Labour Bureau der Londoner Heilsarmee.
    In seiner autobiografischen Erzählung »Fünf Wochen in der Heilsarmee« schildert er diese Episode, die einem weiteren Aufenthalt in Ägypten voranging.

    Derwische, Assassinen und die Jagd in der Wüste


    Nach Port Said kam Robert Kraft wieder als Matrose und von dort begab er sich zur Oase Fayum in der Libyschen Wüste. Sein Ziel ist das Gebiet um den Mörissee. Er hatte sich schon bei seinem ersten Ägyptenaufenthalt vor seiner Militärzeit vorgenommen, sich irgendwann in der Wüste als Jäger niederzulassen. Heute würde man jemanden wie Robert Kraft als Aussteiger bezeichnen. In Fayum traf er auf den deutschen Ingenieur Grothe, durch den er einen Scheikh der Rufai-Derwische kennen lernte. Diese Sekte bezeichnete sich als die legitimen Nachfahren der Assassinen und behauptete von sich, im Besitz von Hassans Schlüssel zum Paradies zu sein.
    Es ist unbekannt, ob Kraft in jener Zeit mit Haschisch oder anderen Drogen jener Region in Berührung kam. Ausschließen lässt es sich nicht. Letztlich zeigte er sich nachhaltig von der – wie er schrieb – »verbotenen Teufelskunst« der Derwische beeindruckt und verarbeitete seine Erlebnisse nur wenige Jahre später in dem Roman »Der Schlüssel zum Paradies«.
    Fest steht, dass sich Robert Kraft in jener Phase seines Lebens erstmals intensiver mit übersinnlichen Phänomenen beschäftigte, die sich als basisbildende, phantastische Elemente durch weite Teile seines Werkes ziehen. Durchweg begleitet von westlichem Skeptizismus, der an Dinge wie Spiritismus nicht glauben mag, aber offenkundig gleichzeitig so davon fasziniert, dass er doch den Glauben an das Unerklärliche suchte.
    Verstärkend dürfte hinzu gekommen sein, dass er nun wirklich seinen Entschluss in die Tat umsetzte, ein zurückgezogenes Leben als Jäger und Einsiedler in der Wüste zu verbringen. Er ließ sich von Ingenieur Grothe mit Munition und anderen lebensnotwendigen Dingen versorgen und lieferte im Gegenzug Felle und andere Jagdtrophäen.
    Doch in seinem Inneren hatte zuerst unbemerkt dann immer deutlicher ein Prozess der Wandlung begonnen. Die Einsamkeit machte den ohnehin wunderlichen Europäer noch exzentrischer und empfindsamer für die ihn umgebende Natur. Er war den Menschen entflohen, um nicht mehr sprechen zu müssen, da ihn jeder Kontakt zu anderen Menschen immer nur an seine eigene sprachliche Behinderung erinnerte.
    Stattdessen begann er in der Einsamkeit der Wüste nun mit den Tieren und den ihn umgebenden Dingen zu sprechen und war bald nicht mehr in der Lage, die Füchse, Hyänen und anderen Wüstentiere zu töten.

    Die Augen der Sphinx


    Zum prägendsten Erlebnis jener Zeit wurde eine – wie Kraft schildert – unter äußerst merkwürdigen Umständen gemachte Entdeckung. Eines Tages schoss er einen Geier, der in den Ruinen eines alten, aufgegebenen Araberdorfes ins Innere eines gemauerten Ofens in Form eines Türmchens fiel. Kraft kletterte auf den Ofen, um von oben hineinzuspringen. Doch der Aufprall im Inneren ließ ihn durch den Boden brechen und er stürzte in ein tiefergelegenes Gewölbe, eine Grabkammer, wo er sein Bewusstsein verlor.
    Als er wieder erwachte, fand er neben sich auf dem Boden eine kleine antike Figur, eine Sphinx mit roten Augen liegen. Zuvor – so schrieb er später – war ihm das gleiche Wesen während seiner Ohnmacht in wirren Träumen erschienen und hatte ihm mittels der rotglühenden Augen und ohne zu sprechen eine Art Film ins Gehirn projiziert, dessen Bilder sich dem Einsiedler tief einprägten. Als Kraft später aus der eingestürzten Grabkammer kletterte, steckte er die kleine Figur ein. Sie sollte seitdem als ständiger Quell der Inspiration auf seinem Arbeitstisch stehen. Was auch immer man von der Geschichte der Entdeckung jener Sphinx halten mag, die Figur an sich existierte. Heute befindet sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Besitz des Karl-May-Verlags in Bamberg.
    Allmählich kristallisierte sich in seinem Bewusstsein die Erkenntnis, dass die selbstgewählte Einsamkeit in der Wüste ihn zunehmend vom Leben entfremdete, statt ihm zum erhofften Glück der Selbsterkenntnis zu verhelfen.
    Er ging nach Alexandria, heuerte auf dem nächsten Schiff an, mit dem er zurück nach London fuhr.

    In den Niederungen der Trivialliteratur


    Mit einer Kleinanzeige im Börsenblatt des Jahres 1896 suchte Robert Kraft von London aus einen deutschen Verleger und verkaufte seine erste Novelle. Schon ein Jahr zuvor hatte er auf Anraten eines deutschstämmigen Bekannten bereits Kontakt mit dem Münchmeyer-Verlag in Dresden aufgenommen, für den er noch im gleichen Jahr begann, »Schmutzliteratur« zu schreiben.
    Bei Münchmeyer handelte es sich immerhin um einen seinerzeit wichtigen Verlag Karl Mays, dessen Kolportageromane wie »Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde« hier erschienen. Während Karl May später in jahrelangen Prozessen mit dem Münchmeyer-Verlag seelisch fast an den »literarischen Sünden« seiner Kolportagezeit zerbrach, bedeutete das Verfassen von Kolportageliteratur auch für Kraft von Anfang an einen inneren Kampf mit seinen eigenen Ansprüchen, den er nicht gewinnen konnte. Stets nach Höherem strebend, verfasste er die anfänglich von ihm verachteten »Schmutz- und Schund-Romane« mit dem zwiespältigen Gefühl, diese Arbeit ausschließlich des Geldes wegen tun zu müssen.
    Dass die Arbeit für Münchmeyer tatsächlich Anlass für zwiespältige Gefühle bot, wenn auch aus ganz anderen Gründen, sollte Kraft erst später erfahren, als er die ersten gedruckten Hefte seiner Reihe »Die Vestalinnen oder eine Reise um die Erde« in den Händen hielt, die ab 1895 erschienen. Redaktion und Setzerei gingen nämlich mit den Manuskripten ihrer Autoren mitunter derart frei um, dass Kraft sein ursprüngliches Werk kaum noch wieder erkannte. Aber schon bald war er als Autor für den Verlag so wichtig geworden, dass er derartige redaktionelle Eingriffe erfolgreich unterbinden konnte.
    In London hatte sich auch das Privatleben Robert Krafts verändert. Er heiratete am 27. Juni 1895 sechsundzwanzigjährig die ein Jahr jüngere Johanna Mathilda Rehbein, eine Deutsch-Engländerin und Tochter eines Weinhändlers. Das Paar wohnte in Whitechapel und am 5. April 1896 wurde die erste Tochter Emilie Johanna Sophie Kraft geboren. Ihr erster Name erinnerte an Robert Krafts Vater Emil, mit dem er sich zu dieser Zeit immer noch nicht ausgesöhnt hatte. Dass er dennoch seine Tochter nach ihm nannte, zeigt, wie stark ihm der langjährige Konflikt mit seinem Vater auf der Seele lastete.

    Zurück nach Deutschland


    Nach zweijährigem Aufenthalt in London beschließen die Krafts nach Deutschland zurückzukehren. Die größere Nähe zu seinem Verlag mag ein Grund gewesen sein, ein anderer war der Versuch Robert Krafts sich mit seinem Vater auszusöhnen. Es muss tatsächlich zu einer Normalisierung der angespannten Beziehung gekommen sein, obwohl der Vater auch dem neuen Beruf des Sohnes, der nun voll und ganz in seiner Rolle als Schriftsteller aufging, eher misstrauisch gegenüberstand. Aber die Tatsache, dass Frau und bald zwei Töchter für Robert Kraft nicht nur eine Verpflichtung darstellten, sondern seinem Leben auch einen bürgerlichen Rahmen verliehen, ließ alte Wunden heilen.
    Aber auch das ungeheure Arbeitspensum, das Kraft abverlangt wurde, bzw. das er sich selbst auferlegte, konnte seine innere Unruhe nicht dämpfen. Auch als Romanautor, der wöchentlich seine Manuskripte abzuliefern hatte, blieb er unstet und hielt es selten für längere Zeit an einem Ort aus. Immer wieder musste die Familie umziehen, gelegentlich setzte er sich auch alleine ab und vergrub sich in ländlichen Domizilen, um dort zu arbeiten.
    Einmal noch sollte er aus dem anstrengenden Dasein als Fließbandautor ausbrechen. Das war, als sein Vater starb, und ihm ein größeres Vermögen vermachte. Zeitlebens hatte Robert Kraft geradewegs eine Phobie vor Geld. Als Ernährer seiner Familie brauchte er es umso dringender und doch gelang es ihm nie, halbwegs vernünftig zu wirtschaften. Bekam er Geld, gab er es umgehend wieder aus und als die Töchter älter waren, mussten sie mit Klavierunterricht und Näharbeiten zum Familieneinkommen beitragen.
    Mit der Erbschaft seines verstorbenen Vaters jedenfalls fühlte sich Robert Kraft in der Lage endlich dem Joch der Lohnschreiberei entfliehen zu können. Immer schon hatte er das Ziel vor Augen, ein anerkannter Schriftsteller guter Bücher zu werden, der nicht unter der Knute der permanenten Fortsetzung schreiben muss. Die Erbschaft – so hoffte er – sollte ihn diesem Ziel näher bringen. Zuerst wollte er mitsamt seiner Familie nach Südamerika aufbrechen, um sich am Amazonas niederzulassen. Doch daraus wurde nichts, Frau und Töchter wehrten sich mit Händen und Füßen gegen diesen Plan.

    Roulette des Lebens


    Stattdessen reiste er nun mit der Familie ins europäische Spielerparadies Monte Carlo, wo er sich ein Jahr »zu Studienzwecken« niederließ. Möglich, dass er die Erbschaft dort verzockt hat. Jedenfalls war er schon nach kurzer Zeit wieder so mittellos wie zuvor und damit gezwungen, sich erneut der Fron der Kolportage zu unterwerfen.
    Henle und Richter schildern in ihrer Biographie den Umgang Robert Krafts mit Geld. Bekam er sein Honorar, so stopfte er sich Münzen und Scheine in die Jacketttaschen, ging spazieren und verschenkte das Geld an nahezu jedermann, dem er begegnete. Insgeheim hielt Kraft Geld wohl für eine böse und dämonische Sache, der er sich möglichst schnell wieder entledigen musste.
    Es ging wieder nach England und dann zurück nach Deutschland.
    Wenn er auch in Monte Carlo sein Vermögen verloren hatte – was allerdings, da Belege fehlen, nur eine Annahme ist – so flossen die dort gemachten Erfahrungen umgehend in seine Arbeit ein. Der zweite Band von
    Detektiv Nobody spielt im Spielerparadies. Zuerst aber erschien die Novellensammlung »Die Roulette« (1904) mit den Erzählungen »Im Paradies der Hölle«, »Monsieur Automate« und »Lila Nachtschatten«. Ebenfalls vom Monaco-Aufenthalt inspiriert war die Erzählung »Der Prinz von Monte Carlo«, die jedoch nicht als eigenständiges Werk erschien. Kraft verwendete sie später, als er – wie so oft – in terminliche Engpässe geriet, als Teil des oben erwähnten Nobody-Bandes.
    Als Robert Kraft am 10. Mai 1916 plötzlich und unerwartet 46jährig stirbt, lässt er seine Frau und seine Töchter in ärmlichsten Verhältnissen zurück. In den gut zwei Jahrzehnten seines schriftstellerischen Schaffens legte er ein Werk vor, das sich vom Umfang her mit dem Karl Mays messen lässt, obwohl dem Mayster für sein Werk gut doppelt so viel Zeit zur Verfügung stand.
    Zu den letzten, nicht mehr ausgeführten Romanplänen Robert Krafts gehörte die Serie »Mysterien des Magus«, in denen er unter anderem eine Gegenerde beschreiben wollte, die der Erde genau gegenüber auf der gleichen Umlaufbahn die Sonne umkreist. Nur eine Handvoll Eingeweihte wissen von ihrer Existenz und haben die technischen Möglichkeiten entwickelt, dorthin zu gelangen. Eine Idee, die rund sechzig Jahre später von dem Amerikaner John Normann im »Gor-Zyklus« wieder aufgegriffen wurde.
    Schon 1901 hatte Kraft in Heft 4 der Reihe »Aus dem Reiche der Phantasie« mit dem schönen Titel »Der Weltallschiffer« das Konzept der Gegenerde, die sich hinter der Sonne befindet und deshalb von unserem Planeten aus nicht sichtbar ist, angerissen.
    Die noch heute viele Autoren inspirierende Idee von Geheimbünden und klandestinen Verschwörungszirkeln spielt in Krafts Werk eine häufige Rolle. So auch in »Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen«, eine Romanserie, die erst posthum 1927 im Verlag Theodor Remert herauskam. Loke Klingsor und die Mitglieder seines Bundes der
    Skalden sind befähigt, Raum und Zeit beliebig zu durchdringen. Sie befinden sich im Kampf mit einem anderen Geheimbund aus Schwarz-Magiern, die die Weltherrschaft anstreben. Loke Klingsor konnte von Robert Kraft nicht mehr vollendet werden, das letzte Drittel stammt von Johannes Jühling.
    Offensichtlich wurde Kraft zu
    Loke Klingsor bereits in seiner Londoner Zeit inspiriert. Damals hatte der australische, in London lebende Autor Guy Boothby gerade seinen ersten Dr. Nikola Roman herausgebracht. »A Bid of Fortune, or Dr. Nikola’s Vendetta« aus dem Jahre 1895 präsentierte der Welt den ersten Serienschurken, Vorbild nicht nur für Robert Kraft, sondern auch viele weitere Autoren wie Norbert Jacques (Dr. Mabuse).

    Kraft und May II


    Robert Kraft lernte den berühmten Kollegen noch zu dessen Zeit bei Münchmeyer kennen. Mit dem Karl-May-Verleger Dr. Euchar Albrecht Schmid freundete er sich im Sommer 1910 an. Dr. Schmid gründete im Jahr 1913, ein Jahr nach Karl Mays Tod, den Karl-May-Verlag in Radebeul bei Dresden. Damit wurde für das Werk Karl Mays eine perfekte Plattform geschaffen, die dafür verantwortlich ist, dass die Bücher des großen Abenteuerautors noch heute lieferbar und vor allem im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sind.
    Dr. Schmid schätzte aber auch das Werk Robert Krafts sehr und verfolgte nach dessen Tod ähnlich umfassende verlegerische Pläne. Trotz des Widerstands der Witwe Karl Mays, die am Karl-May-Verlag beteiligt war und Krafts Romane rundweg ablehnte, kaufte Dr. Schmid nach und nach die Rechte zahlloser Romane von Robert Kraft bei dessen alten Verlegern auf. Schmid hatte Kraft noch zu dessen Lebzeiten von seinen Plänen geschrieben, neben dem Karl-May-Verlag einen weiteren Verlag zu gründen, in dem er sich u. a. dem Werk Krafts widmen wollte. Zu den letzten Arbeiten Robert Krafts zählt der Titel »Untersee-Teufel«, der 1918 posthum im Verlag Haupt & Hammon, Radebeul erschien. Schmid hatte diesen Verlagsmantel erworben, um neben dem Karl-May-Verlag auch eine Publikationsmöglichkeit für andere Autoren zu haben. »Untersee-Teufel« erschien übrigens als phantastischer Roman eines Autors namens Knut Larsen. Dieses Pseudonym hatte sich Kraft für diesen Roman ausgesucht, um sich damit vom Kolportage-Image zu lösen. Bis an sein Lebensende sollte ihn dieser innere Konflikt beschäftigen.
    Leider erfuhr das Werk Robert Krafts trotz des Engagements von Dr. E. A. Schmid nicht die verlegerische Aufmerksamkeit wie man sie den Büchern Karl Mays zuteil werden ließ. Im Zweifel – das hieß bei finanziellen Engpässen im Verlag – gab man immer dem Hauptzugpferd, eben Karl May den Vorzug. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten eine verständliche Entscheidung, aber eine mit Folgen. Denn nach der großen Popularität, die das Kraftsche Werk noch in den zwanziger Jahren genoss, geriet Robert Kraft ab den dreißiger Jahren mehr und mehr in Vergessenheit. Bei dieser für das Werk Krafts fatalen Entwicklung müssen natürlich auch die massiven Beeinträchtigungen, Eingriffe und Veränderungen berücksichtigt werden, die durch die NS-Diktatur und schließlich den zweiten Weltkrieg ausgelöst wurden.
    Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit, die man Kraft posthum in seinem Verlag gönnte, dürfte aber mit den Vorbehalten zu tun haben, die Karl Mays Witwe gegen die Werke des stärksten Konkurrenten ihres verstorbenen Mannes hegte. Es liegt auf der Hand, dass sie hinter den Verlagskulissen aktiv wurde, um einen womöglich größeren Erfolg der Romane Krafts im Vergleich zu den Werken Karl Mays schon im Ansatz zu verhindern. Die enge freundschaftliche Beziehung zwischen Kraft und Dr. Schmid darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mays Witwe, so lange sie lebte, Einfluss auf die Verlagspolitik »ihres« Verlages und den mit ihm verbundenen Unternehmen ausübte. Im Rückblick bestätigt das Verhältnis von Kraft und Dr. Schmid die bekannte Aussage, »wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr«.

    Flüchtiger Ruhm


    Detektiv Nobody sollte sich zum erfolgreichsten Werk Robert Krafts entwickeln. 1920 sogar von P. O. Monty verfilmt, erschienen von den Nobody-Bänden auch eine Reihe fremdsprachiger Ausgaben. Besonders in Tschechien wurden Nobody-Romane bis in die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder neu herausgegeben. Romane Krafts wurden aber auch in andere Sprachen übersetzt. Neben schwedischen Ausgaben der Vestalinnen oder im »Aeroplan um die Erde« sind auch französische Ausgaben des Lieferungsromans »Atalanta, die Geheimnisse des Sklavensees« bekannt, russische Übersetzungen wie »Na Awtomobile wokrug Sweta« (Im Panzerautomobil um die Erde) und anderer Romane und sogar eine osmanische Ausgabe von Atalanta.
    Nach dem zweiten Weltkrieg und der Umsiedlung des Karl-May-Verlags nach Bamberg, gab es in der Reihe »Welt der Abenteuer. Meisterwerke der Spannung« einige Neuauflagen von bearbeiteten Romanen Robert Krafts. Auch diese Bände, wie »Goldschiff und Vulkan« (1963) oder die vierbändige Ausgabe von »Wir Seezigeuner« (1964 – 1968), sind mittlerweile gesuchte Raritäten. In den 90er Jahren belebte man beim Karl-May-Verlag die Edition USTAD wieder, in der eine vierbändige Kassette unter dem Titel »Die Augen der Sphinx« (1996) erschien. Ein Jahr später schob man noch als Einzelroman den schon erwähnten Titel »König König« nach. Aber auch diese Bände sind inzwischen nur noch antiquarisch erhältlich, wenn überhaupt ...
    Über die Jahrzehnte hinweg, in denen der Karl-May-Verlag auf dem Copyright vieler Kraftromane saß und nur selten von diesen Rechten Gebrauch machte und noch seltener Lizenzen daran vergab, bewahrheitete sich wieder einmal der saloppe Spruch: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr ...

    Kraft heute


    Für jemanden, der Kraft neu entdecken will, ist die gegenwärtige Situation mehr als unbefriedigend. Zwar gibt es im Fandom eine Reihe von Reprints alter Lieferungshefte, aber diese haben nur eine Liebhaberauflage von ein- bis zweihundert Exemplaren und sind dementsprechend schwierig aufzutreiben. Fast ist einfacher, an Original-Lieferungshefte der Verlage Münchmeyer oder Remert heranzukommen.
    Eine Alternative sind die schön gestalteten Bände aus der Edition Braatz & Mayrhofer (Leipzig und Wien), die aber wegen ihrer ebenfalls kleinen Auflagen nicht gerade preisgünstig sind. Aber immerhin liegen hier bereits einige Bücher vor und die Herausgabe weiterer Titel ist in Planung. Wegen der winzigen Auflagen sind aber viele Bände schon kurz nach Erscheinen wieder vergriffen. (Nähere Informationen unter
    www.robert-kraft.de)
    Im Ablit-Verlag (www.ablit.de), spezialisiert auf Nachdrucke von Abenteuerautoren wie Balduin Möllhausen (1825 – 1905), ist der Reprint des Kraft-Romans »Die Nibelungen« geplant.
    Da Krafts Werk immerhin gut 40.000 Druckseiten umfasst, stellen aber auch diese Liebhaber-Editionen kaum eine befriedigende Lösung dar. Vor allem wegen der schlechten Verbreitung der Werke Robert Krafts wird sich an der Situation, dass er nur selten zum universitären Forschungsgegenstand wurde, nichts ändern; ganz zu schweigen davon, dass er von neuen Leserkreisen als guter Unterhaltungsautor wieder entdeckt wird.
    Dabei gäbe es im Zusammenhang mit seinem Werks noch zahllose Fragen zu beantworten. Etwa die, ob der unterschwellige Antisemitismus, der gelegentlich und punktuell in seinen Romanen aufschimmert, dem wilhelminischen Zeitgeist geschuldet ist – wie Henle und Richter, ohne es explizit auszuführen, in ihrer Biographie vermuten oder, ob sich hier andere Tendenzen festmachen lassen? Gegen diese letztgenannte Annahme spricht immerhin, dass Kraft ansonsten kein Rassist war. Natürlich müssen seine Äußerungen etwa über Farbige im Kontext einer Zeit gelesen werden, in der Imperialismus und Kolonialismus auch in Deutschland zum Alltag gehörten. Was sich letztlich auch im allgemeinen Sprachgebrauch niederschlug, man denke nur an Begriffe wie
    Kolonialwarenhandlung.

    Ein letzter Einschub á la Kraft


    Wichtig wäre bei einer solchen Erörterung nicht zuletzt der Vergleich mit anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Stellt man Robert Kraft etwa einem Schriftsteller wie Sir John Retcliffe (d.i. Hermann Goedsche, 1815 – 1878) gegenüber, zeigt sich nicht nur die vergleichsweise Harmlosigkeit Krafts, sondern man findet auch ein frappierendes Beispiel für den unheilvollen, dunklen Einfluss, den Literatur bekommen kann.
    Außer bei Ewiggestrigen ist heute allgemein bekannt, dass »Die Protokolle der Weisen von Zion« eine bösartige Fälschung waren, geschrieben, um eine jüdische Weltverschwörung zu konstatieren und als Grundlage für antisemitische Hetze herzuhalten.
    Der Roman »Biarritz« von John Retcliffe (1868) bot eine der Vorlagen für die
    Protokolle. Immer wieder wurde das Kapitel »Die Geheimnisse des Judenfriedhofs in Prag« aus diesem Roman als Einzelpublikation nachgedruckt und in andere Sprachen übersetzt. Schließlich wurde dieser Text unter dem neuen Titel »Die Rede des Rabbiners« herausgegeben. Jetzt hielt man den ursprünglich fiktiven Text für ein authentisches Dokument und als solches bildete es die Vorlage für die Protokolle. (Nähere Informationen und weiterführende Links zu diesem Thema unter dem Stichwort »Retcliffe« auf www.ablit.de)

    Wunsch, Einfluss, Schluss


    Wünschenswert wäre eine erschwingliche Aufbereitung der Werke Robert Krafts etwa als eBook. Seit kurzem gibt es Texterkennungsprogramme (OCR-Software), die auch in der Lage ist, Frakturschriften einzulesen und in digitale Textdokumente umzuwandeln. Das Copyright an den Romanen verfiel siebzig Jahre nach Krafts Tod. Nur an den Bearbeitungen, wie sie im Karl-May-Verlag erschienen sind, existiert noch ein Urheberrecht des Bearbeiters. Wenn eine größere Anzahl seiner Romane ohne Probleme verfügbar ist, wird Robert Kraft vielleicht auch von der Literaturwissenschaft (wieder)entdeckt. Und das könnte eine Voraussetzung dafür sein, dass neue Leser sich für das Werk Krafts zu interessieren beginnen.
    Der Einfluss der Romane Robert Krafts ist, trotz der Schwierigkeiten, überhaupt an seine Bücher heranzukommen, immer noch spürbar.
    Einer der wesentlichen Vorläufer von PERRY RHODAN etwa, die Vorkriegsserie SUN KOH von Lok Myler, später Freder van Holk (d. i. Paul A. Müller) greift in vielen Motiven auf Krafts
    Detektiv Nobody zurück. Schon die Einführung beider Helden ist ähnlich. Sie betreten die jeweilige Bühne ihrer Abenteuer, nachdem Nobody quasi schaumgeboren, nackt dem Meer entsteigt und auf Long Island ein Hotel betritt, während Sun Koh ohne jede Erinnerung an das, was vorher geschehen ist, im Schlafanzug mitten in London auftaucht und das Exzelsior betritt. Das soll natürlich einerseits eine gewisse naive Unschuld symbolisieren, andererseits aber auch die natürliche Überlegenheit und die sich daraus ableitenden Ansprüche der Helden deutlich machen. Bei allem altmodischen Pathos sind das auch heute noch bemerkenswerte Bilder dafür, dass man mit nichts außer sich selbst alles erreichen kann ...

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    Robert Kraft, 1869 – 1916, Unter den Augen der Sphinx
    Eine Biographie von W. Henle und P. Richter
    375 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe und s/w, Hardcover, Leipzig & Wien, 2005, Edition Braatz & Mayrhofer,
    www.robert-kraft.de

    Henle und Richter haben mit ihrer Robert-Kraft-Biographie ein sorgfältig recherchiertes Grundlagenwerk verfasst, das trotz seiner Fülle an Detailinformationen eine spannend zu lesende Lebensbeschreibung des Ausnahmeautors bietet. Kein Wunder, bot doch das ebenso legenden- wie abenteuerreiche Leben Robert Krafts eine Überfülle an Ereignissen, die durch keine Romanhandlung mehr zu überbieten waren. Dabei gelingt es Henle und Richter sich durch das Dickicht aus Fakten und Fiktionen zu schlagen, ohne den zahlreichen Legenden auf den Leim zu gehen. Schließlich war das, was Kraft als Seemann und Reisender erlebte, ohnehin schon abenteuerlich genug. Zudem bietet das Buch einen guten Eindruck der Phantasie- und Gedankenwelt Robert Krafts und offeriert einen perfekten ersten Überblick über das gewaltige Werk dieses zu Unrecht vergessenen Klassikers der phantastischen Literatur. Dieses Buch ist nicht nur unverzichtbar für jeden Fan der Romane Robert Krafts, sondern auch jeden, der sich generell für Abenteuer- und Kolportageliteratur interessiert.

    Ursprünglich erschienen in phantastisch! Nr. 19 und 20, 2005
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    Links:
    www.phantastisch.net